Zwischen Absolute Value und Homo Heuristicus – wie treffen Menschen heute Kaufentscheidungen? (Evergreen)

Zwei Experten – zwei Meinungen: Auf der einen Seite sehen Itamar Simonson und Emanuel Rosen in ihrem viel gepriesenen Buch „Absolute Value“ das Zeitalter der nahezu perfekten Information aufziehen, in dem Menschen in der Lage sind, ihre Kaufentscheidungen in einer noch nie dagewesenen Rationalität zu treffen. Auf der anderen Seite steht in den Augen der Behavioral Economics Vertreter Florian Bauer und Hardy Koth, der „unvernünftige Kunde“, der sich mit persönlichen und meist eher irrationalen Heuristiken durch den Kaufentscheidungsprozess manövriert.

Zwischen Wissen und Heuristik

Hauptsächlich dank Digitalisierung und den Möglichkeiten des Internets stehen heute zweifelsohne mit Bewertungsplattformen und einem einfacheren Zugang zu Expertenwissen praktische und mächtige Instrumente bereit, sich von der „absoluten“ Qualität eines Produktes oder einer Leistung vor dem Kauf ein ziemlich genaues Bild zu machen – wie Simonson und Rosen argumentieren. Zu beachten ist ihr Hinweis darauf, dass der Rationalitätsgrad von Kaufentscheidungen von Produkt zu Produkt verschieden ist und einige Märkte auch auf lange Sicht von dieser Entwicklung „verschont“ bleiben könnten. Bauer und Koth hingegen sind weniger vom Potential der neuen Informationsquellen überzeugt. Aufgrund von Zeitknappheit und unterschiedlichem Interesse und Involvement sehen sie nur ein je nach Produkt schwankendes Sub-Segment von Käufern, das sich die Mühe macht, dem absoluten Wert von Wahlalternativen so nahe wie möglich zu kommen. Für die meisten Branchen seien diejenigen in der Mehrheit, die „entschieden gemacht werden wollen“ und somit von (vermeintlich) irrationaler Kommunikation beeinflussbar sind oder von sich aus so handeln. Es wird also deutlich, dass viele Kaufentscheidungsprozesse weiterhin in einer Art Grauzone zwischen Ratio und Emotio stattfinden.

Der Wunsch nach einer einfachen, aber vernünftigen Entscheidung

Auch in unserer Beratungspraxis vermischen sich beide der dargestellten Positionen häufig. Gut zu beobachten ist dies am Beispiel der Einkaufsstättenwahl für Fleisch. Grundsätzlich ist hier die absolute Qualität für den Kunden nach dem (hoffentlichen) Genuss des Fleisches eindeutig zu beurteilen. Es liegt also ein Erfahrungsgut vor, für das der Kunde auch nur relativ wenig Geld ausgeben muss. Auf der anderen Seite spielt im Lebensmittelbereich allgemein – und bei Fleisch besonders prominent – in den letzten Jahren für viele Menschen Nachhaltigkeit bei ihrer Wahl eine immer stärkere Rolle. Es wird das Bedürfnis deutlich, eine vernünftigere Entscheidung zu treffen, bei der sich das Maß der persönlich wahrgenommenen Nachhaltigkeit positiv auf die Genuss- bzw. Geschmacksbewertung auswirkt.

Der Aspekt der Nachhaltigkeit mit seinen Facetten wie biologischer Anbau, Regionalität oder artgerechter Tierhaltung ist allerdings deutlich schwieriger zu beurteilen als der Geschmack. Trotz der grundsätzlichen Möglichkeit, sich zum Kriterium Nachhaltigkeit relativ objektiv zu informieren, kommen häufig Heuristiken bzw. Shortcuts zum Einsatz. Dabei bildet sich eine Hierarchie aus, je nach dem, wie ernst es dem Einzelnen in Sachen Nachhaltigkeit ist: Die kleinste Dosis Nachhaltigkeit ist der Gang an die Frischetheke, um Tiefkühlware zu vermeiden. Der Kauf von Biofleisch ist der nächste Schritt, wobei Bio durch das Thema Regionalität bzw. Unterstützung lokaler Produzenten scharfe Konkurrenz bekommen hat und für viele Konsumenten der attraktivere Nachhaltigkeitsaspekt ist. Das Wie der regionalen Produktion – Stichwort artgerechte Tierhaltung – wird allerdings häufig nicht weiter hinterfragt. Dieses Thema adressieren Kunden mit dem Kauf direkt beim Bauernhof ihres Vertrauens, idealerweise hat man die Tiere vor Ort schon aufwachsen sehen. Ganz oben auf der Nachhaltigkeits- und Transparenzskala befinden sich immer mehr Fleischliebhaber – gerade aus Großstädten – die Wildfleisch vom Jäger beziehen. So kommen Regionalität und „Freilandhaltung“ für maximale Nachhaltigkeit zusammen.

Als Fazit lässt sich ziehen, dass sich parallel zu den neuen Möglichkeiten des Informationsbezugs auch neue Bedürfnisse zur Qualität der Information entwickelt haben. Diese erhöhte Anspruchshaltung heißt aber nicht zwingend, dass jeder Kunden auch tief in die Informationsrecherche einsteigen möchte. Über Heuristiken ist er auch in diesem Bereich nach wie vor sehr dankbar, die ihm im Falle von Nachhaltigkeit beim Fleischkauf ein ausreichend gutes Gewissen ermöglichen.

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